Als in Deutschland zuletzt gewählt wurde, waren viele Französinnen und Franzosen erstaunt. Da ging eine Ära zu Ende, die Kanzlerin trat ab und dann – so ein Wahlkampf! Kaum ein böses Wort, wenig Streit, alles wohltemperiert. Nur einmal hatte dieser Armin – wie hieß er noch gleich? – versucht anzugreifen. Aber war das wirklich ein Angriff? Ein französischer Journalist hat bei einem der Trielle mitgezählt und war verblüfft. Nicht ein einziges Mal war das Wort "Migration" gefallen, stattdessen ging es um Windräder.
Viele Franzosen halten Deutschland aus irgendwelchen Gründen für sehr vernünftig. An der gemeinsamen Geschichte kann es nicht liegen, aber auch die deutsche Corona-Politik und die jüngste Anselm-Kiefer-Ausstellung in Paris haben nichts daran geändert. Im Gegenteil, die vergangene Wahl und der harmonische Machtwechsel in Berlin haben den Verdacht bekräftigt.
Nun gut, wo die Vernunft regiert, ist die Langeweile nicht weit. Auch das ist unseren Nachbarn nicht verborgen geblieben. Über Olaf Scholz hat ein französischer Sozialist während des deutschen Wahlkampfs gesagt: "Il est triste comme un jour sans pain." Der neue Kanzler, trübselig wie ein Tag ohne Brot. Im Moment wären die französischen Sozialisten allerdings froh, wenn sie wenigstens ein trockenes Brötchen wie Scholz hätten.
Schon im Frühjahr wird in Frankreich gewählt, ein neuer Präsident oder vielleicht doch eine Präsidentin? Gleich fünf Frauen sind bislang unter den Kandidatinnen und Kandidaten, die Emmanuel Macron herausfordern. Die französischen Sozialisten haben Anne Hidalgo nominiert. Die Pariser Bürgermeisterin hat in der Hauptstadt viele Fahrradwege gebaut und durchweg Tempo 30 eingeführt, landesweit steht sie in den Umfragen allerdings nur bei vier Prozent. Das wird nicht reichen, um in den Élysée einzuziehen. Vielleicht tauscht die Partei ihre Kandidatin aber auch noch einmal aus.
Spektakel mit Rekordeinschaltquote
In nicht einmal drei Monaten, am 10. April, findet der erste Wahlgang statt; aller Voraussicht nach wird in zwei Runden entschieden. Der Wahlkampf hat im Grunde genommen schon im Herbst begonnen. Und dass in Paris damals viele verwundert waren, wie friedlich in Berlin um das Kanzleramt gekämpft wurde, das ist wirklich nicht verwunderlich. Denn der Wahlkampf hier und der Wahlkampf dort – das sind zwei sehr verschiedene Sportarten.
An einem der Tage, an dem Annalena Baerbock, Olaf Scholz und Armin Laschet damals im deutschen Fernsehen hinter drei grauen Stehpulten standen, gingen in Frankreich Jean-Luc Mélenchon und Éric Zemmour aufeinander los. Zwei politische Radikale, zwei Stunden, zur besten Sendezeit; Baerbock, Scholz und Laschet waren nach anderthalb Stunden fertig. Der Rechtsaußenpolitiker Zemmour will arabische Vornamen in Frankreich verbieten, der Linksaußenpolitiker Mélenchon nennt ihn einen Rassisten und gefährlich. Die Debatte dreht sich um Migranten und Muslime und um die Nation. Zemmour führt Napoleon ins Feld, Mélenchon Decartes. Fast immer geht es ums Ganze, um die Aufklärung, die Revolution, die Republik. Nie geht es um Windräder. Der Schlagabtausch ist exzessiv, eloquent, abstoßend und faszinierend zugleich. Fast vier Millionen Zuschauerinnen verfolgen das Spektakel, eine Rekordeinschaltquote.
Etwas vereinfacht könnte man sagen, in Deutschland gewinnt man Wahlen, indem man den Ball flach hält. In Frankreich versucht man, dem Gegner den Ball direkt ins Gesicht zu schießen. Auch der Präsident hat in diesen Tagen zu einem ziemlich vulgären Wort gegriffen, um die rund vier Millionen Franzosen, die noch nicht gegen Covid-19 geimpft sind, zu attackieren. Er habe große Lust, sagte Macron, die Ungeimpften – tja, wie übersetzt man das nun? Nimmt man's wörtlich, bedeutet "emmerder" so viel wie: mit Scheiße zu bedecken.
Es gibt für die verschiedenen, oft konträren politischen Kulturen auf beiden Seiten des Rheins sicherlich viele Erklärungen. Eine vergleichsweise einfache liegt in den politischen Systemen begründet. Der französische Präsident wird direkt gewählt, Parteien spielen eine nachgeordnete Rolle. Der Mann im Élysée (eine Frau hat es noch nicht gegeben) verfügt über eine größere Machtfülle als jeder andere westliche Regierungschef. Er befehligt die Streitkräfte; er kann das Parlament auflösen (immerhin nur einmal in zwölf Monaten); er benennt und entlässt den Premierminister nach Belieben (eine Premierministerin hat es erst einmal gegeben). Das ganze System ist auf die eine Person an der Spitze zugeschnitten, nicht einmal einen Stellvertreter gibt es.
Diese Konzentration der Macht verleiht der politischen Auseinandersetzung zwangsläufig etwas Unerbittliches und sehr Persönliches. Wer verliert, verliert – und kann auch nicht Vizekanzler werden. Das erklärt jedenfalls einen Teil der Härte, mit der Wahlkämpfe in Frankreich geführt werden. Ist das schlimm? Manchmal erschrickt man schon, wenn man mit deutschen Ohren zuhört.
Kommentare
Wolkenschaf
#1 — vor 5 Monaten„Nicht ein einziges Mal war das Wort "Migration" gefallen, stattdessen ging es um Windräder.“
Die erfolgreichen Kandidaten haben erkannt, der deutsche Wähler möchte nicht mit Problemen belästigt werden. Wusste schon Erich Weinert:
„...Ach, so ein Abend mit Musik,
da braucht man keine Politik!
Die wirkt nur störend in den Ferien,
wozu sind denn die Ministerien?
Die sind doch dafür angestellt,
und noch dazu für unser Geld. „
John Pitzgerald
#1.1 — vor 5 MonatenDer Klimawandel ist ein viel größeres Problem als Migration. Irgendwann werden das auch die Franzosen begreifen.
Windom.Earle
#2 — vor 5 Monaten"Nicht ein einziges Mal war das Wort "Migration" gefallen, stattdessen ging es um Windräder."
1. Die Klimawende überschattet hier medial jedes andere Problem
2. Deutschland hat eine extreme Toleranzkultur aus der Nazizeit mitgenommen, die es vielen unangenehm erscheinen lässt, Probleme mit Gruppen (etwa junge Männer aus dem Maghreb) auch nur anzusprechen. Witzigerweise kennen aber selbst die scheinbar Liberalsten immer alle möglichen Klischees über diese Gruppen.
3. In Frankreich sind die Probleme mit Migration noch mal wesentlich schlimmer und rütteln wesentlich stärker am gesellschaftlichen Frieden. Das kommt hier aber womöglich auch.
4. Frankreich hat viel weniger Berührungsängste nach rechts, weil es sich für eine Großmacht hält. Dadurch haben rechte Ideen viel mehr Platz im Mainstream.
Zabiegly
#2.1 — vor 5 Monaten1.) das hat Corona doch deutlich geändert
2.) hier liegt wohl der eigentliche Knackpunkt. Was sind denn die gigantischen Probleme mit jungen Männern aus der Maghreb? Anders als so um 2015 postuliert ziehen keine vergewaltigenden Messerstecherhorden durch die Strassen. Und ja, dieses Klischee kenne ich, denn der rechte Rand wurde ja nicht müde, das Interner damit voll zu schreiben. Jeder der nicht unter einem Stein lebt kennt die Vorurteile. Alle nachprüfbaren Zahlen die ich kenne (wie zur Arbeitslosigkeit oder Kriminalität zB) legen aber kein „Problem“ nahe.
3. Das Erste stimmt, das Zweite bleibt abzuwarten.
4. Ja. Ob das nun gut oder schlecht ist?
SidesshowBob3526
#3 — vor 5 MonatenAlso ob eine entsprechende konfrontative politische Kultur wirklich erstrebenswert ist wage ich zu bezweifeln. Ist bestimmt die unterhaltsamere Show aber dafür ist die Res Publica dann doch vielleicht ein wenig zu wichtig...
deutscherinparis
#3.1 — vor 5 MonatenTrotz des konfrontativen Stils wird die zweite Wahlrunde mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen Macron & Pecresse stattfinden, die politisch wohl weniger trennt als Laschet und Merz.
Dr. Graf
#4 — vor 5 MonatenEtwas mehr Emotion und Auseinandersetzung würde uns auch gut zu Gesicht stehen.
Wir erschrecken über ungehobelte Worte im Kanzlerduell, um danach genüsslich die Andersdenkenden digital-verbal "abzuschlachten".
Eine gesunde Debattenkultur scheint das nicht zu sein, wenn man Argumente und Positionen des Gegenübers nicht live aushält, mögen sie auch noch so konträr sein.
shrodo
#4.1 — vor 5 Monaten"Eine gesunde Debattenkultur scheint das nicht zu sein, wenn man Argumente und Positionen des Gegenübers nicht live aushält, mögen sie auch noch so konträr sein."
Einfach nächstes mal statt Triell (oder was wir dann da veranstalten) eine Debatte zwischen Strauß und Schmidtn übertragen.