Es ist so etwas wie der Höhepunkt des politischen Sommers in Deutschland. Wenn in Hamburg am Sonntag über die Schulreform des schwarz-grünen Senats abgestimmt wird, geht es nicht nur um das künftige Schulsystem in Hamburg, sondern auch darum, wie es mit dem Ersten Bürgermeister Ole von Beust (CDU) weitergeht – und welche Zukunft "längeres gemeinsames Lernen" in Deutschland hat.
Über was stimmen die Hamburger am Sonntag ab?
Im Prinzip über das weitreichendste Primarschulen-Konzept Deutschlands. Die Eckpunkte der Reform heißen längeres gemeinsames Lernen in den Klassen 1 bis 6, das meist jahrgangsübergreifend organisiert werden soll. Danach soll es nur noch zwei statt drei Schulformen geben.
Die Primarschule wird dabei nicht als klassische Grundschule definiert. Ab Klasse 4 werden bereits Fachlehrer aus den weiterführenden Schulen in den Unterricht einbezogen, um auch gezielt auf die Ansprüche des gymnasialen Niveaus hinzuarbeiten. Anders als in Berlin soll es nicht die Möglichkeit geben, nach der 4. Klasse auf ein grundständiges Gymnasium zu wechseln.
Unstrittig hingegen ist der Teil der Reform, der nur noch zwei statt drei Schulformen nach der 6. Klasse vorsieht: das Gymnasium mit dem Turbo-Abitur nach 12 Schuljahren und die Stadtteilschule, auf der Abschlüsse nach neun, zehn und ebenfalls mit der Hochschulreife, dann aber nach 13 Jahren, möglich sind. In der Stadtteilschule wird ab Klasse 8 die Berufswegebegleitung zu einem verbindlichen Schwerpunkt. Eine Verbesserung der Rahmenbedingungen geht damit einher. Dazu gehört die Anstellung weiterer Lehrkräfte, aber auch die Verkleinerung der Klassen bis zu einer maximalen Stärke von 19 Schülern in sozial auffälligen Milieus.
Was ist das Ziel der Reform und wie argumentieren Befürworter und Gegner?
Ziel der Reform ist in erster Linie eine bessere individuelle Förderung und eine zielgenauere Bewertung von Talenten und Fähigkeiten, denn zuletzt haben sich rund 40 Prozent der Empfehlungen nach der 4. Klasse als falsch herausgestellt. Die Verantwortlichen in Hamburg verweisen darauf, dass längeres gemeinsames Lernen inzwischen Standard in Europa sei und lediglich Deutschland und Österreich mit der frühen Trennung nach vier Jahren die Ausnahmen bilden. Die Reformbefürworter argumentieren, dass man den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen ausgleichen müsse. Erreichen will man das durch eine intensivere Betreuung der Benachteiligten, ohne die Förderung der Leistungsstarken aus den Augen zu verlieren. Ziel ist es, die Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren und mehr Schüler zu besseren Abschlüssen zu bringen.
Kommentare
Micheal V.
#1 — 16. Juli 2010, 14:29 UhrGnadenloser Unfug
Besonders gespannt bin ich darauf, welche Auswirkungen die Aufgabe der Realschule nach dem Sankt-Florians-Prinzip zugunsten des leistungshemmenden Gesamtschulsystems haben wird. Es ist erschütternd, welche Vabanque-Spiele deutsche Politiker mit ihren Bürgern betreiben...
ultimazer1
#2 — 16. Juli 2010, 14:44 UhrGenau richtig
Das die Gesamtschule "leistungshemmend" ist, ist ein längst überholtes Angstmacher-Argument der CDU/FDP aus den 70ern. Erziehungswissenschaftlich ist das längst wiederlegt. Im Gegenteil: Starke Schüler werden sogar noch besser, als auf den Normalschulen.
Zahlreiche Studien, die Erfolge ander Europäischer Länder und vor allem auch dutzende erfolgreiche Reformschulen in Deutschland belegen, dass diese Art von Schule funktioniert - und zwar besser als das überholte 3-gliedrige preußische Schulsystem aus dem 19 Jhd.
Da werden keine Spiele getrieben, sondern schlicht auf die Realität und die Wissenschaft geschaut.
Da aber Millionen von Menschen das alte System durchlaufen haben, glauben diese Jetzt-Eltern natürlich, dass dies das richtige sei - den vor Neuem hat man immer Angst. Gerade wenn es um die eigenen Kinder geht.
Die längst widerlegten Argumente der Gegener - aber auch der ZEIT im aktuellen Leitartikel - sind fahrlässig, falsch und schüren gezielt die Angst der Eltern.
Das neben der Schulstruktur dann vor allem auch die Unterrichtsgestaltung verändert muss, hin zu offnen Lernarrangements mit starker Binnendifferenzierung, das ist auch klar. Nur ist diese Reform eben ein erster notwendiger Schritt.
Anstatt dagegen zu arbeiten, sollten sich die Eltern einbringen und sich freuen, dass hier endlich auf großer Ebene ein guter Schritt gemacht wird - HOFFENTLICH!!!
Staatsdiener
#2.1 — 16. Juli 2010, 14:56 UhrWillkommen in der Wirklichkeit!
Und weil die Gesamtschule so "leistungsfördernd" ist, gewinnen in den Vergleichen der Bundesländer jeweils die Länder, die konsequent gegen die gleich(schlecht)machenden Gesamtschulen sind und auf das gegliederte Schulsystem setzen?
Wie das? Aber wahrscheinlich ist das nur eine Verschwörung der Regierung Merkel, die die ganzen guten Schüler zwangsweise nach Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen deportiert, damit z.B. in Berlin nur schwache Schüler übrig bleiben.
Okay, genug Zynismus...
Bitte, liebe Hamburger: Lehnt das Senatsvorhaben ab und zwar möglichst so deutlich, dass auch in NRW die Gesamtschulideologen die Finger davon lassen...
Audioline
#3 — 16. Juli 2010, 14:49 UhrBerlin
In Berlin gibt es keine richtige Primarschule. Dort lernen nur die schwachen Schüler gemeinsam nach Klasse 4. Gymnasialschüler und Schüler an Privatschulen verlassen die "Primarschule" nach Klasse 4. Das ist die schlechteste Variante, da damit die besten Schüler die Klassenverbände verlassen und eventuell Klassen neu zusammengesetzt werden müssen. Diesen Fehler will Hamburg vermeiden.
johanna redlich
#3.1 — 16. Juli 2010, 15:52 Uhr92% schwach in Berlin?
In Berlin verlassen 8% aller Schüler nach der vierten Klasse die Grundschulen, die anderen lernen gemeinsam weiter.
Wenn 92% der Berliner Grundschüler nach vier Jahren gemeinsamen Grundschulbesuchs "schwach" sind, müsste die gemeinschaftliche Schule ab der ersten Klasse abgeschafft werden...
Viele Berliner Eltern beurteilen das genauso, daher sprießen immer mehr private Grundschulen aus dem Boden.
Thomaus
#4 — 16. Juli 2010, 15:13 UhrReform geht nicht weit genug
ich unterstütze die hamburger Reform mit den Argumenten, die "Ultimazer1" unter "Genau richtig" angegeben hat. Allerdings sehe ich sie nur als *einen* Schritt in die richtige Richtung, denn sie ist ein politischer Kompromiss der Parteien CDU und GAL - der Forderungen aus der Wirtschaft Rechnung trägt.
Letztendlich stammt das derzeitige Schulsystem im Kern aus einer Zeit, in der es keine Lernforschung, Padägogik, Neurobiologie, Sozialforschung usw. gab. Das spiegelt sich an allen Ecken wider. In der vierjährigen Grundschule reichen allein der Struktur wegen die Möglichkeiten einer optimalenm Förderung nicht aus - auch wenn man sich - wir erleben es gerade als Eltern - sehr bemüht. Bemühen genügt an dieser Stelle nicht. Die Grundschule muss neu gestaltet werden - für alle Kinder und nicht nur die 2/3, die überall irgendwie durchkommen.
Direktdemokrat
#4.1 — 16. Juli 2010, 16:47 UhrGesamtschulen verringern nicht die soziale Auslese
Gesamtschulen können die soziale Auslese nicht verringern. Das kann noch nicht mal Finnland, bei denen der Rückstand der Migranten zu den übrigens Schülern noch größer ist als in Deutschland.
Es dominiert der Einfluss der Familien, der auch noch Auswirkungen nach der Schulzeit hat.
Das sagt ein renommierter Bildungsforscher, der früher selbst Anhänger der Gesamtschulen war, auf Grundlage einer groß angelegten Studie:
http://zeit.disable.pw/2008/02/C…