Mein Haus liegt in der Nähe des Hauptplatzes in Almaty, dem Platz der Republik. Und in diesen Tagen war es genau im Epizentrum der Ereignisse. Als es in der denkwürdigen Nacht vom 4. auf den 5. Januar zu einem Grollen kam und helle Blitze am Himmel zu sehen waren. Ich dachte zunächst, es handele sich um eine Art ungewöhnliches Feuerwerk. Doch der Lärm nahm zu, laute Schreie waren zu hören und es wurde deutlich, dass in der Nähe etwas Ernstes und Beunruhigendes vor sich ging.
Die Geräusche der ohrenbetäubenden Explosionen mehrten sich, Autoalarme heulten auf, das Haus bebte. Es trat ein seltsamer Geruch auf, der, wie wir später erfuhren, von Tränengas stammte. Die Luft war mit Rauch gefüllt. Man konnte hören, wie in der Nähe etwas zerschmettert wurde. Und all diese beißende Mischung aus Rauch und verrückten Geräuschen erfüllte den Hof und drang durch unsere Fenster. Im Licht der Laternen sahen wir nur einen weißen dichten Schleier, in dem sich ein furchtbares Gebrüll der Menschenmassen erhob, ein Kreischen, Poltern und Heulen. In dieser Nacht haben wir nicht mehr geschlafen.
Es folgten Tage der Ungewissheit mit Explosions- und Schussgeräuschen. Unsere Kommunikation mit der Außenwelt verschwand fast völlig. Das Internet war komplett abgeschaltet. Das Telefon funktionierte nur sporadisch. Meine Mutter und ich riefen uns gegenseitig an, um zu hören, ob alles in Ordnung sei. Von denjenigen, die einen funktionierenden Fernseher hatten, gab es kurze Nachrichten: "In ein Gebäude wurde eingebrochen", "der Flughafen wurde angegriffen", "die Akimat (Anm. d. Red.: das Regierungsgebäude) wurde in Brand gesteckt", "ein Kopf wurde abgeschlagen". Eine Nachricht schlimmer als die andere. Und das alles inmitten eines dichten Nebels, der, wie im fiktiven Silent Hill, die Stadt verschlang.
Wir haben eine
Woche ohne Internet verbracht und dabei gespürt, wie abhängig das moderne Leben
davon ist. Lebensmittel, Apotheken, Geld, Kommunikation, Informationen – all
das war plötzlich schwer zugänglich. Als wir herausgegangen sind, um einen Lebensmittelladen zu suchen, sahen wir mit eigenen Augen, was aus der Stadt
nach den Pogromen geworden war. Es sah surreal aus: zerbrochene
Fensterscheiben, geplünderte Geschäfte und Banken, ausgebrannte Gebäude,
entwurzelte Bänke, am Boden liegende Ampeln, ausgebrannte Autos.
Jetzt gibt es keine Schießereien oder Explosionen mehr in Almaty, aber es herrscht eine Ausgangssperre, Straßensperren sind eingerichtet und es gibt viele Berichte über Menschen, die in diesen Tagen gestorben sind. Abends werden in den Straßen Sirenen eingeschaltet und mit Megafonen wird verkündet, dass die Säuberungsaktionen weitergehen.
Wie wahrscheinlich die Mehrheit der Menschen in Kasachstan habe ich keine klare und vollständige Vorstellung davon, was tatsächlich geschehen ist, wer wie an den Ereignissen beteiligt war, wo die Wahrheit liegt und wo die Lügen. Es gibt viel mehr Fragen als Antworten. Dennoch sehe ich diese verwundete Stadt, die Schmerzen der Menschen, die um ihre Angehörigen trauern. Ich spüre die allgegenwärtige Verunsicherung, die in der Luft liegt, und mir wird klar, dass diese Tage für unser Land noch lange in Erinnerung bleiben werden. Ich muss warten, bis sich der Nebel lichtet.
Aus dem Russischen von Artur Weigandt
Kommentare
hansa.0341
#5 — vor 4 MonatenWen man wissen möchte, was und warum es geschah und was die Wahrheit ist, braucht man nur in hier in Deutschland die Medien studieren! Besonders die ÖR können da helfen!
Lautlos1
#5.1 — vor 4 MonatenManche konnten sogar schon die Schuldigen benennen, bevor überhaupt der erste Schuss fiel.
zensor999
#6 — vor 4 MonatenDie russischen Soldaten haben das Chaos beruhigt und viele Menschenleben gerettet.
Warnieweg
#6.1 — vor 4 MonatenSpätestens jetzt sollte Putin wirklich den Friedensnobelpreis bekommen!
zensor999
#7 — vor 4 Monaten"entwurzelte Bänke, am Boden liegende Ampeln, "
Welch schöne Lyrik.
erstkundigmachen
#7.1 — vor 4 MonatenAigerim Tazhi ist Lyrikerin
Der Psychiater
#8 — vor 4 MonatenWenn ich das russische Narrativ zusammenfassen darf: es gab zwar Auseinandersetzungen im Übergang von alter zu neuer kasachischer Regierung, also erhebliche Konflikte in der kasachischen Nomenklatura, aber dennoch sei es wahrscheinlich, dass die USA mit drinhängen. Zwar könne man nichts beweisen, aber der Umstand, dass Kasachstan sowohl für Russland und seinen Wirtschaftsblock wichtig wäre, wie auch für China mit seinem Seidenstraßenprojekt, ergäbe eine klare Antwort auf: Cui bono, wem nützt es. Zudem wäre eine US-Abteilung (eines der US-Geheimdienste?), die sich für Regimechanges engagierten, in Kasachstan aktiv gewesen. Diesem Narrativ folge auch die chinesische Regierung.
Ich schlussfolgern daraus, dass es in erster Linie eine innenpolitische Angelegenheit war, bei der eine kasachische Gruppe der Elite einen Staatsstreich versuchte, um den Machtkonflikt für sich zu entscheiden. Ob da von außen diese Gruppe unterstützt wurde, kann bisher nicht festgestellt werden. Falls dies der Fall war, könnten durchaus noch andere Player eine Rolle gespielt haben als die USA, denn das Indiz Cui bono ist schwach, weil ja unklar ist, wer alles von einem gelungenem kasachischen Staatsstreich profitiert hätte. Das können ja alle möglichen Akteure sein. Möglich wäre auch, dass es gar keine Verstrickung von außen gab, sondern dass diese kasachische Gruppe ganz autonom gehandelt hatte. Wenn sie Unterstützung innerhalb des kasachischen Militärs gehabt hätte, wäre die Brisanz enorm.
Otto2
#8.1 — vor 4 MonatenLesen Sie #10 und unbedingt den Link, den er empfiehlt.
Der macht deutlich, was die deutsche Wirtschaft schon am 11.1.22 wusste.
Das wussten natürlich auch die Regierung und selbstverständlich deutsche Medien.