Wir leben in Zeiten, die uns einiges Kopfzerbrechen bereiten. Deshalb fragen wir in der Serie "Worüber denken Sie gerade nach?"
führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Stimmen des
öffentlichen Lebens, was sie gegenwärtig bedenkenswert finden. Die
Fragen stellen Maja Beckers, Andrea Böhm, Christiane Grefe, Nils
Markwardt, Elisabeth
von Thadden oder Lars Weisbrod. Heute antwortet die US-amerikanische Philosophin Nancy Fraser, die über die verborgenen Beziehungen zwischen Klasse, Gender und "Race" nachdenkt.
ZEIT ONLINE: Nancy Fraser, worüber denken Sie gerade nach?
Nancy Fraser: Zum einen denke ich über die Desaster dieser Tage nach. Von der schockierenden Nachricht, dass in den USA der Supreme Court womöglich das Recht auf Abtreibung abschaffen wird, was nur der Anfang weiterer Schleifungen von Bürgerrechten sein könnte, bis zu den Geschehnissen im Ukraine-Krieg. Zum anderen denke ich aber auch über die Benjamin-Lectures nach, die ich kommenden Monat in Berlin halten werde. In diesen Vorlesungen mündet ein Denkprozess, der mich seit einigen Jahren beschäftigt.
ZEIT ONLINE: Worum geht es dabei?
Fraser: Ich gehe von der Annahme aus, dass wir in einer gleichermaßen fundamentalen wie multidimensionalen Krisenzeit leben, die eine Reihe von Gefahren mit sich bringt, aber auch Möglichkeiten emanzipatorischer Alternativen eröffnet. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass wir nicht mehr mit business as usual weitermachen können. Eine steigende Zahl an Menschen ist bereit, radikalere Formen der Transformationen in Betracht zu ziehen. Leider führt dies aktuell oft zur Unterstützung autoritärer und chauvinistischer Populismen. Die Prämisse meiner Arbeit lautet dennoch: Bietet man eine kohärente und überzeugende Gegenerzählung an, lassen sich viele Menschen für einen emanzipatorischen Wandel gewinnen. Denken Sie an die Kampagne von Bernie Sanders, Occupy Wall Street, Black Lives Matter, MeToo, ebenso an Podemos in Spanien oder Syriza in Griechenland. All diese Bewegungen haben auf die ein oder andere Art Probleme bekommen, keine Frage. Aber sie zeigen, dass es Alternativen zum Trumpismus und LePenismus gibt.
ZEIT ONLINE: Was bedeutet das aus philosophischer und gesellschaftstheoretischer Warte?
Fraser: Ich versuche in meiner analytischen Arbeit zu ergründen, worin die vielfältigen Dimensionen bestehen, wie diese miteinander verbunden sind, sich gegenseitig verstärken und wie sie letztlich in einer Dynamik dessen wurzeln, was ich, in meinem im Oktober erscheinenden Buch, kannibalischen Kapitalismus nenne. Mit dem Begriff möchte ich deutlich machen, dass der Kapitalismus nicht nur ein Wirtschaftssystem ist, sondern eine Beziehung zwischen der Ökonomie und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Diese dienen einerseits zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftssystems, werden aber gleichzeitig von diesem kannibalisiert.
ZEIT ONLINE: An welche Gesellschaftsbereiche denken Sie?
Fraser: Zum ersten meine ich jene Formen der reproduktiven Sorgearbeit, ohne die die kapitalistische Wirtschaft nicht existieren kann, die gleichzeitig aber oft auch nicht entlohnt werden. Zum zweiten jene ökologischen Grundlagen, die die Wirtschaft gleichzeitig benötigt und zunehmend zerstört. Zum dritten auch öffentliche Güter sowie die Ausbeutung rassifizierter Bevölkerungsschichten, die ebenso für die Kapitalakkumulation notwendig sind, aber weder vergütet noch ersetzt werden. In jedem dieser Bereiche kannibalisiert das System seine eigenen Grundlagen – die am Ende unser aller Grundlagen sind. Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, eine neue kritische Theorie des Kapitalismus zu entwickeln. Diese konzentriert sich vor allem auf die Beziehung zwischen der Ökonomie und ihren Hintergrundbedingungen und ermutigt im besten Fall verschiedene Parteien, Bewegungen und Interessengruppen sich innerhalb der gegenwärtigen Krise als potenzielle Verbündete zu begreifen. Denn die gemeinsamen Interessen sind oft nicht einfach zu erkennen. Nicht jeder, der unter dem gegenwärtigen System leidet, hat dieselben Nöte und Bedürfnisse oder setzt die gleichen Prioritäten. Dennoch entspringen alle Leiden und Bedürfnisse ein und demselben System. Es braucht eine Gesellschaftstheorie, die diese verborgenen Bezüge offenlegt.
ZEIT ONLINE: In Ihren Benjamin-Lectures planen Sie dies in Bezug auf die Verbindungen von Klasse, Gender und Race zu tun. Sie schlagen vor, feministische und antirassistische Bewegungen auch als Arbeiterbewegungen zu begreifen. Das ist bemerkenswert, weil Antirassismus und Feminismus in gegenwärtigen Debatten oft als das Gegenteil materieller Verteilungskämpfe gesehen werden: als Formen des Aktivismus, die sich auf die Veränderung von Sprache und symbolischer Repräsentation konzentrieren.
Fraser: Dieser Ansatz entstand, nachdem ich W.E.B. Du Bois' 1935 publiziertes Meisterwerk Black Reconstruction lehrte. Das Buch ist eine brillante Analyse der US-amerikanischen Sklaverei und des Kampfes um ihre Abschaffung, des Bürgerkriegs sowie der Reconstruction und schließlich der darauffolgenden "Konterrevolution" der Besitzenden, die die Weiße Vorherrschaft im Süden wiederherstellte. Das Werk kreist dabei stets um die Frage der Arbeit und geht über gängige Definitionen hinaus. Du Bois interpretiert etwa den Abolitionismus, die Bewegung zur Befreiung der Sklaven, als eine Arbeiterbewegung. Deshalb hatten die USA laut seiner Argumentation damals zwei Arbeiterbewegungen: Während der Abolitionismus sich auf die Emanzipation der unfreien Arbeiter konzentrierte, forcierten die Gewerkschaften und sozialistischen Bewegungen die Verbesserung der freien Arbeit. Doch tragischerweise haben sich beide nicht als potenzielle Verbündete begriffen und so die große Chance verpasst, eine auf die Bedürfnisse der Arbeiter zugeschnittene Demokratie aufzubauen. Stattdessen obsiegte die plutokratische Alternative. Darüber hinaus bezeichnete Du Bois Schwarze Sklavenarbeit in einer globalen Perspektive als den Grundstein der modernen Industrie. Wenn Marx sagte, dass es die "doppeltfreien Lohnarbeiter" waren, die den Reichtum der Industriegesellschaften erarbeiteten und somit auch die Totengräber des Kapitalismus sein werden, sieht Du Bois hier noch etwas Grundlegenderes: die unfreie Arbeit der "dunklen Masse".
ZEIT ONLINE: Es geht Du Bois also darum, dass im Kapitalismus zwei verschiedene Formen der Arbeit existieren, die integral miteinander verbunden sind?
Fraser: Genau, es gibt keinen Manchester-Kapitalismus ohne Mississippi. Die moderne Textilproduktion des 19. Jahrhunderts war nur aufgrund der billigen, durch Sklavenarbeit erzeugten Baumwolle möglich – und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. Erst diese enteignete Arbeit auf den Plantagen machte die ausgebeutete Arbeit in den Fabriken profitabel. Entsprechend lief die Differenz zwischen enteigneter und ausgebeuteter Arbeit auch lange grob entlang von Hautfarben. Jene, deren Arbeit man enteignete, wurden zuvor kolonisiert und ihrer Rechte beraubt. Es sind diese beiden Formen der Arbeit, die der Kapitalismus – auch heute noch – braucht. Und wie Du Bois bereits richtig gesehen hat, lässt sich die eine nicht ohne die andere befreien. Das gilt in vielerlei Hinsicht auch noch heute.
ZEIT ONLINE: Inwiefern?
Fraser: Der globale Kapitalismus beruht immer noch auf enteigneter Arbeit. Auch wenn es sich dabei nicht mehr um direkte Versklavung handelt, gibt es immer noch Formen der abhängigen und halb-freien Arbeit. Deshalb können meiner Ansicht nach viele antiimperialistische und antirassistische Bewegungen, man denke etwa an Black Lives Matter, auch als Bewegungen verstanden werden, die im Sinne Du Bois' Formen der unfreien Arbeit kritisieren. Es existieren immer noch zwei verschiedene Arbeiterbewegungen, die sich nach wie vor nicht als potenzielle Verbündete verstehen. In einem wichtigen Punkt gehe ich aber über Du Bois hinaus, indem ich noch eine dritte Form der Arbeit einführe.
Kommentare
LGB
#1 — vor 2 WochenEs wird immer deutlicher, dass wir Kapitalismus, Rassismus und Misogynie überwinden müssen, um eine gerechtere Gesellschaft zu erschaffen.
Oliver Stozno
#1.1 — vor 2 WochenSie überraschen mich, "Rassismus und Misogynie überwinden ..., um eine gerechtere Gesellschaft zu erschaffen". Wer wäre darauf vor diesem Artikel gekommen?
VoxPropria
#2 — vor 2 WochenNach dem Sieg über den real existierenden Kommunismus hat sich der Turbo-Kapitalismus etabliert, der nichts anderes war als eine Renaissance des Ausbeutertums vom Anfang den 20. Jahrhunderts.
Diese Entwicklung hat bereits mit Thatcher und Reagan begonnen und ist eine der Hauptursachen für den Untergang der US-Mittelschicht und den Sinnverlust der meisten US-Wähler. Stattdessen läuft man jetzt den Rattenfängern hinter her, die den Massen Erlösung versprechen und Leid bringen.
Auf diese Art hat sich der Kapitalismus und haben sich die westlichen Demokratien selbst diskreditiert. Menschen wie Trump, Putin und weitere nutzen das für ihre Zwecke aus und etablieren einen mörderischen Nationalismus.
Würden sich die westlichen Demokratien auf ihre Werte besinnen, könnte diese Entwicklung aufgehalten werden -- aber aktuell scheint meist der einzige Wert der des Dollars respektive des Euro zu sein.
Vielleicht schweißt der neue Feind im Osten die Gesellschaften wieder zusammen -- aber mit Blick auf die "Maskendeals" in der Pandemie befürchte ich, wir haben noch nicht genug dazu gelernt.
HerrAfrikaaner
#2.1 — vor 2 WochenSie leben offensichtlich in einer anderen Gesellschaft wie ich. Unser moderner Sozialstaat hat so gut wie gar nichts mehr gemein mit der Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts. Um so etwas zu sehen, muss man wohl in einem Paralleluniversum leben.
Fehrberlliner
#3 — vor 2 Wochen"Es wird uns nur dann gelingen, eine ökologischere Gesellschaftsform zu errichten, wenn wir signifikante Teile der Arbeiterschaft dafür gewinnen."
Wer ist "wir"?
Der Kapitalismus, dem man "viel straffere Zügel" anlegt, "ihn aber gar nicht komplett abschaffen muss"?
Intersektionalitäten hin, Triple-Oppression-Scientists her:
Nichts ist "in Ordnung".
Oliver Stozno
#3.1 — vor 2 WochenDie Aussage des Artikel ist nur, damit es besser wird muss sich was ändern und man muss umfassend denken.
differenziert
#4 — vor 2 WochenUnd wieder kommt ein guter Beitrag in Form eines Interviews von einem Menschen mit sozialwissenschaftlichen Perspektive bzw. Background.
https://zeit.disable.pw/autoren/…
Sehr wichtiges, mutig in einem gesellschaftspolitisch neoliberal orientierten Umfeld (zunächst wenig Blumen zu gewinnen) und eine außerordentliche gute Analyse und ein konstruktiver Ansatz von Nancy Fraser.
Manche werden sich bestimmt wieder an der Begrifflichkeit festbeißen („Und der beste Begriff dafür wäre meines Erachtens: demokratischer Sozialismus.“), und gar nicht zum thematischen Kern vordringen. Aber genau das gilt es als erstes zu überwinden.
schulzholger
#4.1 — vor 2 Wochen"demokratischer Sozialismus"
Können sie diesen Begriff mal definieren?
Schon bei Sozialismus ist nicht klar was gemeint ist (außer vielleicht "nicht Kapitalismus") aber wie soll das demokratisch gehen - fast alle Staaten, die sich bisher sozialistisch genannt haben sind autoritäre Systeme gewesen (manche haben sich erst so entwickelt, weil Menschen eben nicht damit einverstanden waren, andere waren es von Anfang an).