Vernunft und Vertrauen sind unerlässlich für das Funktionieren von demokratischer Staatlichkeit – beides ist durch die Pandemie erheblich beschädigt, aber nicht allein auf die Art und Weise, wie es meist diskutiert wird. Natürlich sind die Proteste von Corona-Leugnern und Impfgegnern, oft unterstützt von rechtsradikalen Kräften, besorgniserregend. Die mediale Aufmerksamkeit für diese zahlenmäßig immer noch sehr überschaubaren Gruppen verstellt jedoch den Blick auf das eigentliche Problem.
In der Pandemie hat sich nämlich ein sehr viel tiefer greifendes Phänomen gezeigt: Der Vertrauensverlust von der sogenannten Mitte der Gesellschaft in die Politik ist und bleibt auch nach der Wahl gravierend, er ist nicht an die Regierung Merkel oder Scholz gebunden. Dieser Vertrauensverlust entsteht aus Fehlern im Handeln und Kommunizieren, die Folgen werden bleiben, selbst wenn die Pandemie einmal vorbei sein sollte.
Was ist passiert? Von Anfang an bestand eine Herausforderung der Pandemie darin, die unübersichtliche Lage, das sich ständig verändernde Infektionsgeschehen, die neuen Erkenntnisse, also das im Idealfall gemeinschaftliche Lernen auf eine Art Handlungsstrang zu packen – die politischen Akteure wollten dem Publikum Handlungsfähigkeit demonstrieren. Sie wollten zeigen, dass sie Herr der Lage sind, bloß nicht schwach oder ratlos wirken. Und schufen doch gerade dadurch jene Voraussetzungen, die ihr eigenes Tun nachhaltig beschädigten.
Denn die Unsicherheiten waren für alle sichtbar, sie wurden auch eine Weile so von der handelnden Politik formuliert – gemischt allerdings von Anfang an mit, so würde man das heute im Rückblick sagen: Lügen. Das ist ein hartes Wort, aber auf manche Phasen der Kommunikation in der Pandemie trifft es zu – die Formulierung von falschen oder widersprüchlichen Aussagen, um eigenes Tun oder eigene Interessen zu schützen, so wie es etwa im Fall von Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn war, der sehr spät für verpflichtende Masken plädierte und dann welche bestellte, die nicht wirklich zu gebrauchen waren.
Hintergrund der damaligen Behauptung, die man auch als Schutzlüge bezeichnen könnte, waren die Versäumnisse der Bundesregierung. Die Aussagen änderten sich dann auch, wie so oft, ohne die vorherige Aussage explizit zu korrigieren. Durch dieses kommunikative Gleiten entstand nicht nur Verwirrung in der Bevölkerung, es entwickelte sich eine latente Haltung der Verantwortungslosigkeit. Diese Haltung blieb. Niemand in der politischen Verantwortung, so schien es, musste für rasch hingeworfene Aussagen Konsequenzen tragen – in der Substanz zeigt sich hier ein strukturelles Problem von politischem Handeln in Zeiten hoher Komplexität: Es ist einfacher, etwas zu sagen, das sinnvoll scheint, als etwas zu tun, das sinnvoll ist.
Die aktuelle Debatte etwa um die Impfpflicht ist so ein Beispiel. Sie scheint auf ein zentrales Problem der Situation zu zielen, nämlich die Tatsache, dass einfach zu wenige Menschen geimpft sind. Aber die Diskussion wird die Lösung nicht bringen, im Gegenteil, sie wird das Problem weiter zerfasern lassen und kommt für die gegenwärtige Omikron-Welle eh zu spät. Wenn man also freundlich auf die Sache schaut, ist es vor allem ein Fehler in der Selbstbeschreibung der Politik, die im Kontext radikaler Unsicherheit selbst radikal unsicher auftrat. In Zeiten, in denen Pandemie oder Klimawandel aber so eine radikale Unsicherheit als Dauerzustand produzieren, müssen die Wirkweisen der Politik andere sein.
Was aber würde das bedeuten? Die handelnde Politik hat sich durch die Pandemie innerhalb der Leitplanken dessen bewegt, was politisches Handeln im 20. Jahrhundert war – markiert vor allem durch den angeblichen Gegensatz von staatlichem, privatem und privatwirtschaftlichem Handeln: der Staat also träge, überlebt, schwach; die Privatwirtschaft hingegen agil, lösungsstark, flexibel. Diesen Gegensatz aber gibt es so nicht. Er ist inszeniert, vor allem von denen, die aus ideologischen Gründen den Staat in seinem Wirken und in seinem Wesen verändern wollen. 40 Jahre nach der neoliberalen Revolution von Margaret Thatcher und Ronald Reagan ist Staatsskepsis längst Mainstream geworden.
Kommentare
Brust oder Flasche
#1 — vor 4 Monaten"weil sonst – wie schon in der Finanz- und der Flüchtlingskrise – die negativen Aspekte den Diskurs bestimmen. Und damit Probleme statt Lösungen, Zweifel statt Veränderung im Mittelpunkt stehen."
Weder die Politik noch die Leitmedien dürfen dabei die Regierungspolitik als "alternativlos" verkaufen wollen und alle Andersdenken als "dumm", "böse", "von Putin gesteuert" usw. ausgrenzen.
Das spaltet nur unsere Gesellschaft. Das Ergebnis sehen wir jetzt.
Kapaster d.J.
#1.1 — vor 4 MonatenDie Gesellschaft ist nicht "gespalten" nur weil ein paar Außenseiter ein großes Geschrei erheben.
Forellin Müller
#2 — vor 4 MonatenMein Vertrauen in die Flexibilität des Staates sind begrenzt und haben sich seit Corona nur bestätigt.
Wer hat etwas anderes erwartet?
mh14
#2.1 — vor 4 Monatenflexibilität ist schon da, keine impfpflicht>impfpflicht, 6 monate genesen>3monate, aber da ist ja auch ein teil des problems, ankündigungen über massnahmen werden vlt. ein bisschen arg schnell und zu wenig differenziert kommuniziert, klar soll impfquote bringen, aber getäuschte sind jetzt keine hilfe, und ein grosser teil der abwartenden will nicht dazu gehören...
neben manchmal vorschnellen wendungen sind sicher auch noch unterlassungen massgeblich.
aber sicher ist politik nicht schuld, dass manches technisch nicht so gelingt, wie erhofft, das sollte so auch eingestanden werden, dann gibts weniger gegenwind.
also mehr empathie auf allen seiten würde helfen, das obrigkeitsstaatliche moglichst klein zu halten, denn eigentlich ist vieles auch nicht ganz schlecht gelaufen im vergleich zu anderen, dh. nun ein gelassenes verhalten bei omikron ist angemessener als bei evtl. nahender pandemieabschwächung auf ähnliches bedrohungsszenario wie eine starke influenzawelle, als dabei nochmal rechthaberkämpfe durchfechten zu wollen.
klar ein fahrplan für den nächsten herbst mit neuen impfmitteln, neuen medikamenten, evtl. neuen erkenntnissen auch bei all den kaum in der berichterstattung vorkommenden impfstoffe jenseits von mrna sollte bis zum frühsommer entwickelt werden.
dennoch: omikron beende bitte diese überbordende angstfase der menschen, es wartet ja die viel grössere herausforderung, die nur weltweit gelöst werden kann....
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#3 — vor 4 MonatenWenn am Wochenende 6.000 Menschen gegen die Regierungsmaßnahmen demonstrieren und in den öffentlich-rechtlichen TV-Lokalnachrichten kommt dann ausschließlich ein Sprecher von 20(!) "Gegendemonstranten" ausführlich zu Wort und kann über die Tausenden regierungskritischen Demonstranten herziehen, ohne dass von den Tausenden Demonstranten auch nur einer mal interviewt wurde, dann ist das ein Paradebeispiel dafür, wie man die Bevölkerung entweder im Regierungssinn framt oder (die kritisch Denkenden) abstößt.
Kapaster d.J.
#3.1 — vor 4 Monaten"Wenn am Wochenende 6.000 Menschen gegen die Regierungsmaßnahmen demonstrieren ..."
Dann ist das eine Meldung für die Rubrik Vermischtes im Lokalteil.
MilliardäreSolltenEnteignetWerden
#4 — vor 4 MonatenRichtige anti Korruptionsgesetze wären ein Anfang
Kapaster d.J.
#4.1 — vor 4 MonatenEs gibt Gesetze gegen Korruption.
Einfach mal erkundigen und weniger rumtönen.