Als in Nizza die Feuerwerkskörper in den Himmel steigen,
sitzen Jay und Hayder auf einem Hügel, vier Kilometer entfernt. Sie kommen an
diesem Abend wie so oft nicht weg aus ihrem Vorort. Das Auto des Freundes war
mit sechs Personen überbelegt und Busse fahren schon lange nicht mehr.
Von dort oben, auf dem kleinen Berg mit den Pinien, haben sie zugeschaut und
den Himmel in der Ferne leuchten sehen. Als später ein
Lkw-Fahrer mehr als 80 Menschen an der Meerespromenade in Nizza in den Tod
reißt, sind sie längst wieder unten und rauchen eine auf der Sitzgruppe vor den achtzehnstöckigen Wohnhäusern.
Freitagabend, knapp 24 Stunden nach dem Attentat, haben sie ihren Vorort im Norden von Nizza noch immer nicht verlassen. "Wir sind eigentlich immer hier. Nizza ist zu teuer für uns", sagt Jay. Es ist 20 Uhr, wie immer ist es heiß an der Côte-d'Azur im Juli und die beiden 20-Jährigen sitzen mit freiem Oberkörper und Flipflops auf einem Spielplatz. Sie schauen sich auf YouTube Videos an, in denen die verstorbenen Menschen, Leichenteile, blutige Schuhe und viele andere traurige Dinge auf der Meerespromenade ihrer Stadt zu sehen sind, ohne dass die beiden eine Miene verziehen. Ob das schlimmste Attentat in der Geschichte ihrer Stadt ihr Leben verändern wird? Nein, sagen sie, ihr Leben spiele sich ja nicht dort ab, sondern hier in Nord-Nizza, ihrem Viertel, bei Saint-André-de-la-Roche. Sie hätten gar kein Geld, um an der Promenade etwas trinken zu gehen.
Tatsächlich trennen die umliegenden Hügel von Nizza die Armen von den Reichen, die Arbeitslosen von den Gutverdienern, die Hochhäuser von den Villen mit Schwimmbad. Die Stadt liegt an einer Bucht und im Hinterland fangen direkt die Seealpen an. Wer auf der zum Wasser zugewandten Hügelseite wohnt, genießt die Aussicht auf das Meer und die abends hell erleuchtete Promenade. Auf der anderen Seite, manchmal nur wenige Hundert Meter vom prestigeträchtigen Bergkamm entfernt, gucken die Menschen von ihren Balkonen aus in Richtung Norden, sie sehen auf die Autobahn, die Nizza mit Italien verbindet, sie hören Schwerlaster auf einen Steinbruch zufahren. Und sie lesen seit den Anschlägen von Paris im vergangenen November, dass in genau solchen Vorstädten Frankreichs die "Brut für Attentate" heranwächst.
Auch Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der Täter vom Donnerstagabend, hat in so einer Gegend gewohnt, erst mit seiner Frau und den drei Kindern im Norden der Stadt, dort, wo die Straßenbahn aufhört und die Hochhäuser anfangen, und schließlich soll er in einer Wohnung auf der Route de Turin gelebt haben, einer langen Ausfallstraße, in der die Fassaden grau und die Menschen arm sind. Es war bis jetzt unklar, ob Bouhlel ein einzelner Gewalttäter war oder ob seine verheerende Tat vom sogenannten Islamischen Staat organisiert wurde. Nun hat der IS sich zum Anschlag bekannt. Und wie schon bei den Pariser Attentaten kommt der Täter aus einem der trostlosen Vororte.
Die Menschen in Bouhlels Viertel spüren die Last der jüngsten Geschichte. Die Stadt, die Medien, der Präsident, sie alle machen Islamisten für das Morden verantwortlich. Viele Franzosen und Französinnen wollen nach den schrecklichen Bildern Schuldige ausmachen und das sind für die allermeisten Menschen auf der Sonnenseite Nizzas Muslime, auf die sie sehr selten treffen und nordafrikanische Ausländer, die im Zentrum ebenfalls selten zu sehen sind. Nur in den Vororten, der Banlieue von Nizza, gibt es muslimische Schulen, Moscheen und Halal-Geschäfte. Es scheint, als lebten alle gläubigen Muslime hier und nicht in der Altstadt oder den neueren Vierteln Nizzas.
Als nach dem Ende der Kolonialkriege viele Nordafrikaner nach
Frankreich einwanderten, wurden diese Vororte hochgezogen, meist graue
Hochhäuser vor den Toren der Stadt, isoliert und ohne ein Zentrum. In Nizza
hält die u-förmige Tramlinie an beiden Enden einige Hundert Meter vor den Türmen und nur sehr wenige der
jährlich vier Millionen Touristen verirren sich in diese Gegenden. Sie sind ein
Sinnbild geworden für die verlorenen Seelen Frankreichs, für eine Trennung der
Gesellschaft, für Straßen, in denen frustrierte und später gewaltbereite Männer
heranwachsen. Für viele Menschen sind sie Alltag.
Als lebten sie auf einem anderen Stern
"In der Innenstadt werden wir doch gar nicht mehr bedient", sagt Jasmine, eine Muslima mit locker geschwungenem Kopftuch, die am nördlichen Ende der Route de Turin wohnt. Sie sei kurz nach den Attentaten von Paris in einem Kleidungsgeschäft nicht bedient worden, Passanten hätten sie angepöbelt. "Wenn jemand von der Champs-Elysée durchdreht, sind doch auch nicht gleich alle Nachbarn verdächtig", sagt sie. Jasmine ist wütend und bleibt nun "am liebsten hier unter uns", obwohl es sich bei ihrem Viertel nur um wenige Straßen handelt. An der Promenade sei sie zuletzt am Karneval gewesen, im Februar, damit ihre Kinder die berühmten Blumenwagen bestaunen konnten.
Schon damals zum Karneval gab es Terrorwarnungen, aber alles
ging gut. Auch das Achtelfinale der Fußball-EM im Stadion von Nizza lief wie am
Schnürchen, die Menschen atmeten auf. Mit den vielen Toten auf der Promenade
nun ist wieder alles anders: Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen Front National, möchte die Grenzen schließen und wahrscheinlich wird sie wieder
in Südfrankreich ihre besten Ergebnisse einfahren. Vielleicht, weil ihre
Wählerinnen und Wähler die von ihnen so gefürchteten Muslime nie zu Gesicht
bekommen, als lebten sie auf einem anderen Stern.
Die Stimmung untereinander in den Vororten sei aber ganz gut, sagt Jasmine und das meinen später auch Jay und Hayder. "Die Tunesier hier sind okay, die sind schon länger hier als wir", sagt Hayder. Wieder zeigt er ein Video, diesmal von der Facebook-Seite seines muslimischen Freundes, der kürzlich in Tunesien auf einer Hochzeit feierte. Um seinen Hals baumelt ein goldenes Kreuz, der Oberkörper ist muskulös. "Vom Bau", sagt er. Manchmal finde er einen Job für einen Tag und befestige dann Zwischendecken und Wände in Häusern. Jay ist schon lange ohne Arbeit, wünscht sich eine Stelle als Kfz-Mechaniker und den Franc zurück. Früher hätte er mit einem Franc (rund 15 Cent) ein Baguette kaufen können, behauptet er. "Damals haben meine Familie und ich noch in Restaurants in Nizza essen können, aber heute ist das nur für die Reichen", sagt er. Wann Jay und Hayder wieder mal an die Promenade fahren, wissen sie nicht. Vier Kilometer können in Nizza sehr weit entfernt sein.
Kommentare
JohWin
#1 — 16. Juli 2016, 13:10 Uhr"Vielleicht, weil ihre Wählerinnen und Wähler die von ihnen so gefürchteten Muslime nie zu Gesicht bekommen, als lebten sie auf einem anderen Stern."
Das gibt es leider auch in Deutschland.
alex099
#1.1 — 16. Juli 2016, 13:34 UhrNie zu Gesicht bekommen ?? Was soll damit gemeint sein ? Gehen Sie doch einfach mal durch die Fußgängerzone Ihrer Heimatstadt. Von getrennten Welten kann keine Rede sein.
witschke
#2 — 16. Juli 2016, 13:24 UhrWir sehen und spüren nun, das Resultat jahrelanger Ungerechtigkeiten.
Nizza, eine Stadt der Superreichen.
Kilo Kartoffelsalat=70.- €
Wie im Kindergarten:
Ihr lasst mich nicht mitmachen,
ok dann mach ich euer Spielzeug kaputt.
Mein Vater sagte immer:
"Mit Gewalt geht gar nichts",
- er lebte in einer anderen Zeit.
andrerae
#2.1 — 16. Juli 2016, 15:33 UhrKleine Anekdote aus Nizza vor ca 8 Jahren. Wir wollten in einen der Vororte weil da unser Hotel War (etap). Eine aufgetakelte Alte, nach dem Weg gefragt, war entsetzt. Da könnten wir nicht hinlaufen, c'est tres dangereux!!! Viele Afrikaner. Wir, naiv,stiegen in ein Taxi und wurden 2km für fast 50 Euro gefahren (Festpreis-irgendwas-Betrug). Das Viertel war übrigens ganz okay.
musulo
#3 — 16. Juli 2016, 13:29 UhrArmut, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung als Ursache für Gewalt? Dieser Artikel wird untergehen. Wenn man doch gegen Bomben, IS und Terror "kämpfen" kann.
Mit etwas Phantasie könnte man eine Brücke zur Polizeigewalt in den USA schlagen aber vor diesem Gedankengang steht ein fest zementiertes Weltbild zur Rechtfertigung von Rassismus und Diskriminierung.
Diese Weltbild verhindert evt. aber auch den Blick auf die Lösungen.
Jaak
#3.1 — 16. Juli 2016, 13:49 UhrGenau, nur die Gesellschaft(unsere) ist schuld, oder?
sinister2000
#4 — 16. Juli 2016, 13:32 UhrUndenken, umdenken, umdenken.
Ein weiter so bringt nichts. Diskriminierung, wechselseitiger Hass und Hetze. Liebes Frankreich, nimm Geld in die Hand, starte großangelegte Ausbildungsoffensiven, rückt zusammen und startet neu. Hass und Unfrieden, davon profitieren nur die Nationalisten und Islamisten.
alex099
#4.1 — 16. Juli 2016, 13:36 UhrFrankreich gibt mehr Geld für den Sozialstaat aus als Deutschland... und es reicht immer noch nicht ?? Schweden investiert auch sehr viel in den Sozialstaat und trotzdem sind in Malmö oder Stockholm einige Stadtteile in Kriminalität abgestürzt... Die Schuld immer nur alleine einer Seite zu geben bringt nichts.