Im Mai 1945 kapitulierte Nazideutschland. Die vier Siegermächte standen nun vor der Frage: Wie soll ein neues Deutschland aussehen? In einem Punkt waren sie sich früh einig: Das Bildungssystem muss reformiert werden. Über die Schule sollte den Schülerinnen und Schülern ein Verständnis von Demokratie nahegebracht werden. Im Westen wie im Osten gab es den Wunsch danach, dass auch deswegen alle Schüler länger auf eine Schule gehen sollten. Eine Gesamtschule, so wie sie sich auch viele Bildungsreformer schon seit Langem wünschten. Der Politikwissenschaftler Benjamin Edelstein erklärt hier im Gastbeitrag, warum diese Demokratisierung nur zur Hälfte gelang. Er ist unter anderem Redakteur des "Online-Dossier Bildung", einer vom Wissenschaftszentrum Berlin und der Bundeszentrale für politische Bildung gemeinsam verantworteten Internetplattform.
Bildung und Demokratie sind aufs Engste miteinander verschränkt – diese Überzeugung hegten auch die Besatzungsmächte, als sie ihr Demokratisierungsprogramm für das besiegte Deutschland entwarfen. Schon in den Grundsätzen für die Besetzung, Verwaltung und Kontrolle des Landes, auf die sich die Alliierten im Potsdamer Abkommen von 1945 verständigten, richtete sich der Blick auf das Bildungssystem. Dieses müsse "so überwacht werden, dass die nazistischen und militaristischen Lehren völlig entfernt werden und eine erfolgreiche Entwicklung der demokratischen Ideen möglich gemacht wird".
Im Schulwesen
fand diese Maxime zunächst und offensichtlich Ausdruck in einer Revision der Lehrpläne
und Schulbücher sowie der Entlassung von nationalsozialistisch
belasteten Verwaltungsbeamten und Lehrpersonen. Diese unmittelbaren und weitgehend
unstrittigen Entnazifizierungsmaßnahmen bildeten aber nur den Auftakt einer sehr viel weiter reichenden
Schulreformagenda, die nicht zuletzt das Ziel hatte, die Struktur des deutschen Schulwesens umzugestalten. Insbesondere
die sowjetische und die US-amerikanische
Militärregierung drängte in den Nachkriegsjahren darauf, die frühe
Trennung der Schülerschaft und deren Verteilung auf unterschiedliche Schulformen zu beenden und
entfalteten Aktivitäten, um
entsprechenden Reformmaßnahmen in ihrem jeweiligen Einflussbereich zum
Durchbruch zu verhelfen.
Acht Jahre Grundschule
Die sowjetische Seite begann frühzeitig und sehr entschieden mit den Reformen. Bereits 1945 richtete sie eine "Zentralverwaltung für Volksbildung" ein und beauftragte diese, eine Neuordnung des Schulwesens zu entwerfen. Mit dem "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule" wurde in der sowjetischen Besatzungszone dann bereits 1946 eine weitreichende Schulstrukturreform auf den Weg gebracht. Sie dehnte die bisher vierjährige Grundschule auf acht Schuljahre aus und ersetzte das traditionelle neunjährige Gymnasium durch eine vierjährige Oberstufe. Diese neue Struktur legte den Grundstein für den in den Folgejahrzehnten weiter forcierten Umbau des gegliederten Schulsystems zum Einheitsschulsystem sozialistischer Prägung.
Dabei war die eingeleitete Reform
nicht einfach ein Oktroi der sowjetischen Besatzungsmacht. Sie entsprach vielmehr
weitgehend der Position, zu der sich SPD und KPD im Oktober 1945 in einem
"Gemeinsamen Aufruf zur Demokratisierung der deutschen Schule" bekannt hatten
und wurde von Schulreformern deutscher Provenienz maßgeblich mitverantwortet
und unterstützt.
Auch die Amerikaner sahen in den tradierten Strukturen des deutschen Schulwesens ein ernst zu nehmendes Hindernis für die Demokratisierung des Landes. Dabei gingen sie so weit, dem deutschen Schulsystem eine Mitverantwortung für das Aufkommen des Nationalsozialismus zuzuschreiben. Zu diesem Schluss gelangte jedenfalls eine Expertenkommission, die von US-Präsident Harry S. Truman eingesetzt worden war, um das deutsche Bildungssystem zu untersuchen und Empfehlungen zu seiner Demokratisierung vorzulegen. In ihrem 1946 an den Generalleutnant und stellvertretenden Militärgouverneur Lucius D. Clay übergebenen Bericht, der die Reformagenda der US-Militärverwaltung maßgeblich vorkonturierte, urteilte die nach ihrem Vorsitzenden – dem Präsidenten des American Council on Education George F. Zook – benannte Kommission: "Dieses System hat bei einer kleinen Gruppe eine überlegene Haltung und bei der Mehrzahl der Deutschen ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt, das jene Unterwürfigkeit und jenen Mangel an Selbstbestimmung möglich machte, auf denen das autoritäre Führerprinzip gedieh."
Schon kleine Kinder werden klassifiziert
Es waren aber
auch allgemeinere gesellschaftspolitische Erwägungen, aus denen sich die
US-Amerikanische Schulkritik speiste und die in weiten Teilen auch der Argumentationslinie
der deutschen Reformkräfte entsprachen, zu denen vor allem die linken Parteien und
progressive Lehrerverbände aus der Volksschullehrerschaft zählten. Zum einen
ging es um die Frage der Chancengleichheit.
Nach Auffassung der Kommission brachte die Aufteilung der Schülerschaft nach einer nur vierjährigen Grundschulzeit ein mit demokratischen Verhältnissen unvereinbares Maß an sozialer Selektivität hervor. "Schon im Alter von 10 Jahren oder früher" sehe sich "ein Kind gruppiert oder klassifiziert durch Faktoren, auf die es keinen Einfluss hat, wobei diese Einstufung fast unvermeidlich seine Stellung für das ganze Leben" bestimme. Demokratie aber bedeute "dass allen die gleichen Möglichkeiten geboten werden – denen, die ein besonderes Interesse und besondere Fähigkeiten haben und auch denen, die besonders behindert sind".
Kommentare
Hermann der Salzer
#1 — 21. Mai 2020, 16:27 Uhr".....Schon im Alter von 10 Jahren oder früher" sehe sich "ein Kind gruppiert oder klassifiziert durch Faktoren, auf die es keinen Einfluss hat, wobei diese Einstufung fast unvermeidlich seine Stellung für das ganze Leben" bestimme..."
"....Demokratie aber bedeute "dass allen die gleichen Möglichkeiten geboten werden – denen, die ein besonderes Interesse und besondere Fähigkeiten haben und auch denen, die besonders behindert sind..."
Das halte ich für eine haarsträubende These, denn hier wird ja völlig außer Acht gelassen das eben jeder unterschiedliche Fähigkeiten und Schwächen hat und das man diese nur bedienen kann wenn man diese früh erkennt und fördert bzw abmildert (besonders in einem Land das sehr stark abhängig ist von der Effizienz seiner Menschen).
Und das ist wiederum am besten möglich indem man früh sortiert und den Leuten dadurch Sicherheit, eine feste Perspektive gibt. Wenn man erwachsen ist kann man dann immer noch sich umorientieren.
Interessant zu sehen wie dies anders gedeutet wurde.
siebenundsiebzig
#1.1 — 21. Mai 2020, 16:35 UhrWenn Sie erst mal ein paar Jahre in einer Grundschule gearbeitet haben, können Sie zahlreiche Namen nennen, die das Gegenteil beweisen: Clevere Kinder aus “bildungsfernen” Familien werden ab der weiterführenden Schule und oft auch schon in der GS nicht genug unterstützt; kognitiv weniger gut gerüsteten Kindern wird wortreich und mit dem finanziellen Background durch mehrmals wöchentliche Nachhilfe der Weg zum Abitur geebnet.
siebenundsiebzig
#2 — 21. Mai 2020, 16:29 Uhr...was zu bedauern ist. Die Gesamtschulvariationen der Bundesländer der letzten Jahre und wenigen Jahrzehnte werfen dank schlechter personeller und baulicher Ausstattung ein schlechtes Licht auf an sich wichtige bildungspolitische Ansätze.
Frank28
#2.1 — 21. Mai 2020, 17:30 UhrDie finanzielle Ausstattung ist nicht das Problem, die Eltern weigern sich einfach diese Angebote anzunehmen-wahrscheinlich mit gutem Grund.
vincentvision
#3 — 21. Mai 2020, 16:47 UhrViele Eltern wollen das dreigliedrige Schulsystem, weil sie gar keine wirkliche Chancengleichheit möchten.
Denn das würde ja bedeuten, dass der kleine Mohammed viel zu lange neben der kleinen Sophie sitzt.
Also setzen sie sich dafür ein, dass sich ihre Nachkömmlinge im Sinne möglichst effizienter Wettbewerbschancen möglichst früh von den vermeintlichen Schmuddelkindern (Migranten, Lernbehinderten, Benachteiligten,etc.) zu trennen habe.
Besonders erbärmlich ist es, wenn solche Eltern noch Besorgnis heucheln, es sei schließlich ja auch nur zum Besten der betroffenen lernschwachen Kinder...
Diese Trennungswünsche, diese Ablehnung längeren gemeinsamen Lernens über Schichten hinweg, ist hierzulande besonders stark ausgeprägt.
Gemeinschaftsschulen, die POS der DDR, Gesamtschulen - alles sozialistisches Teufelszeug, gemacht, um „alle gleich zu machen“.
Dahinter steckt ein fürchterlicher, unsolidarischer Ungeist, der nicht mal ansatzweise das Gemeinwohl und die wichtige Förderung von Talenten allgemein für ein Land im Auge behält.
Und dass die kleine Sophie vielleicht sogar etwas fürs Leben und für eine gelungene Persönlichkeit lernen könnte, wenn sie sieht, wie benachteiligt eventuell der kleine Mohammed ist - auf solche Ideen kommen diese Eltern erst recht nicht.
artefaktum
#3.1 — 21. Mai 2020, 16:55 Uhr@ vincentvision
Und wehe das eigene(!) Kind soll dann aufgrund von Lernschwäche in die entsprechende Klasse oder Schulform. Spätestens dann will man davon nichts mehr wissen. Da wird dann auch gerne geklagt. Betroffen sind ja angeblich immer andere(!) Kinder.
Elbimmi
#4 — 21. Mai 2020, 16:52 UhrAber gerade das amerikanische Schul- und Bildungssystem steht für mangelnde Chancengleichheit. Die Ausstattung der Schulen hängt vom Steueraufkommen des Wohnviertels ab. Den Besuch der „Elite“- Universitäten können sich nur Reiche leisten..... u.v.m.
Und dass das amerikanische Bildungssystem den demokratischen Geist der Bürger bilde.... naja...
Frank28
#4.1 — 21. Mai 2020, 17:36 UhrDem kann man nur zustimmen, die amerikanische Highschool ist noch wesentlich selektiver. Erstens werden die Kinder schon nach Schulbezirk selektiert und ein schlechter Schulbezirk bedeutet leider 2 bis 3 Jahre weniger Bildung am Ende der Schullaufbahn. Und auch in einer Schule treffen sich Kinder aus den Advanced Placement und Honors Kursen kaum mit denen aus dem Kochkurs und der Autoreparatur. Auch wenn es auf dem Papier einen Abschluss für alle gibt, die Realität hat hier ganz andere Regeln und soziale Durchmischung gibt es gar nicht.
Zu berücksichtigen wäre auch, das eine 12-jährige Schulzeit für Alle auch das Aus für die duale Berufsausbildung bedeutet, etwas worum uns die Amis beneiden, nicht umsonst werden deutsche Handwerker in Amerika besonders geschätzt, mehr noch als deutsche Akademiker.