Die Angst vor der "Einheitsschule" und "ideologischen Experimenten" eint die deutschen Bildungseliten. Erstaunlich ist jedoch, wie heute noch die gleichen Argumente und Parolen benutzt werden wie vor dreißig Jahren. Damals brachte ein Volksbegehren die Schulreformpläne der nordrhein-westfälischen Regierung zu Fall. Was folgte war ein jahrzehntelanger Stillstand in der deutschen Bildungspolitik.
Aus heutiger Sicht erscheint der Gesetzentwurf, den die sozial-liberale Regierung in Nordrhein-Westfalen im November 1976 in den Landtag einbrachte, sehr vertraut. Anstatt nach der vierten sollten die Schüler – wie gerade in Hamburg gescheitert – erst nach der sechsten Klasse auf die verschiedenen Schulzweige aufgeteilt werden. Gleichzeitig sollten die weiterführenden Schulformen in organisatorische Zentren zusammengefasst werden.
Auf diese Weise wollte man den drohenden demografischen Verschiebungen vorgreifen und die schulische Versorgung dauerhaft sicherstellen. Die Initiatoren waren zudem der festen Überzeugung, dass durch eine Zusammenfassung der Schulen die Kinder ihren Neigungen entsprechend besser gefördert werden könnten. Auf diese Weise sollte auch die damals schon als problematisch empfundene frühe Bildungsselektion beseitigt werden.
Seit Beginn der sechziger Jahre war in der Bundesrepublik intensiv und kontrovers über die gesellschaftspolitische Dimension von Bildungs- und insbesondere von Schulpolitik diskutiert worden. Deutlichsten Ausdruck fand diese Entwicklung in der Bildungsexpansion der ersten sozial-liberalen Koalition unter der Führung Willy Brandts. Bildungspolitik sollte zur "Spitze der Reformen" werden, wie sich Brandt in seiner Regierungserklärung festlegte.
Mit großem finanziellem Aufwand wurde das Bildungssystem umstrukturiert und geöffnet. Davon sollten insbesondere die Angehörigen unterer sozialer Schichten profitieren. Auf Länderebene avancierte die Gesamtschule in diesem Zuge zum Lieblingsprojekt sozialdemokratisch geführter Regierungen. Allen voran in Hessen begann man konsequent an einer Horizontalisierung des tradierten Schulsystems zu arbeiten. Dies geschah durch groß angelegte Gesamtschulversuche und einer gemeinsamen Unterrichtung aller Schüler bis hin zur 10. Klasse – stets begleitet von kontroversen Diskussionen und Protesten.
Der Widerstand, der aber 1976 der Regierung von SPD-Ministerpräsident Heinz Kühn in Nordrhein-Westfalen von beinahe allen Seiten entgegenschlug, hatte eine neue Qualität. Vertreter von Philologen- und Elternverbänden sahen in der geplanten Reform das Ende der Eigenständigkeit des Gymnasiums und der Freiheit, den Bildungsweg des eigenen Kindes selbst bestimmen zu dürfen. Die CDU warf der Regierung vor, sie wolle in aller Heimlichkeit die "sozialistische Einheitsschule" in der Bundesrepublik einführen.
Bevor das Gesetz im Oktober 1977 vom Landtag verabschiedet wurde, hatte sich eine breite Front aus verschiedenen Interessengruppen gebildet, die sich in der "Bürgeraktion Volksbegehren gegen die kooperative Schule" organisierten. Mit massiver Unterstützung der oppositionellen CDU und der katholischen Kirche begann eine scharfe Auseinandersetzung mit den Reformbefürwortern. Mit Erfolg.
Kommentare
Buh
#1 — 28. Juli 2010, 18:07 UhrVielenD ank...
...für den historischen Schwenk.
Es ist interessant dass konservative schon immer sich einer Reform verweigerten im Sinne von "Keine Experimente". Sicher, wenn es um neue Kreigführung, um wiederverienigung, um das gesundheitssystem geht, sind die Alten experementierfreudig, doch wenn am Ende etwas rauskommen könnte, was der Ideologie der konservativen entgegensprechen könnte, wollen sie "keine experimente". Dabei ist eine Einheitsschule, bei uns in Köln nennt man das allerdings liebevoll gea
Mir als einwanderrungskind hat die gesamtschule den Popo gerettet und mich zum studieren verleitet. Hauptschulen hingegen sind inhuman. Ich erlebe das hautnah mit und bin fest davon überzeugt, dass Hauptschulen für die Kinder von Nachteil sind.
Hingegen das neue Konzeopt der NRW-Landesregierung könnte ein erfolgsschlager werden. es ist sehr liberal und biegsam. Es wird nicht von oben diktiert und es lässt nach meinen einschötzungen die Chancengleichheit wieder erblühen.
Derzeit ist das Gegenteil der Fall, Arbeiterkinder und solche von Migranten landen in hauptschulen mit überforderten Lehrern wo sie egsgat bekommen, dass sie es nie zu etwas bringen, während Reiche und gebildete Eltern ihre Kinder auf gut ausgestattete Schulen mit besser geschulten Lehrern schicken, wo sie gefördert werden. (Obwohl ich die derzeitige Form des Gymnasiums auch nicht gutheisse...aber kompromisse und so...)
MarcelSchumann
#2 — 28. Juli 2010, 18:12 UhrDreißig Jahre Stillstand? Sie sprechen schon von Deutschland?
Ich kann in keinem Resort eine so ausgeprägte Reformwut ausmachen wie bei der Bildung. Jede Landesregierung versucht am Anfang ihrer Legislaturperiode das Bildungssystem des Vorgängers über den Haufen zu werfen. Das ist schon ein fixes Ritual geworden.
Wo ist da der Stillstand?
Es gibt mittlerweile so viele unterschiedliche Schulformen und Systeme, dass es unmöglich ist mit Kindern in ein anderes Bundesland umzuziehen.
Ich widerspreche Ihrer Forderung nach noch mehr Experimenten deutlich und würde es eher begrüßen wenn die Kompetenzen von den Ländern an den Bund übertragen werden damit endlich mal Ruhe einkehrt und wenigstens ein Mindestmaß an Einheitlichkeit gewährleistet ist.
gauss
#3 — 28. Juli 2010, 18:14 UhrDas erste Mal höre ich, dass Mittelschictseltern überzeugt werden sollen. Zuletzt in Hamburg hat man es ja mit politischer Gewalt versucht, z.B. durch Wegfall des Elternwahlrechts und durch Wegfall der Auswahl des Schulbezirks (was ja jetzt auch wieder kommt - dank Frau Goetsch). Solange Bildungspolitik nicht als Bildungsfähigkeit des Individuums verstanden wird, sondern immer nur als Teil der Sozialpolitik (längeres gemeinsames Lernen, Wegfall des Literaturgeldes, etc.) wird man meines Erachtens hier auf keinen grünen Zweig kommen. Es ist nun einmal schwer zu ertragen, dass man sein eigenes Kind opfern soll, damit Unterschictskinder mehr Chancen bekommen. Außerdem hat noch niemand wirklich wissenschaftlich zeigen können, dass die Schulform der goldene Schlüssel ist. Begleitend gibt es dann mehr Lehrer, bessere Materialien, weniger Schüler, etc. Alles richtig, hat aber inhärent nichts mit der Schulform zu tun. Die Gesamtschulbefürworter stellen sich ja absichtlich nicht in den Raum und geben zu wie schlecht die schulischen Ergebnisse auf der von ihnen favorisierten Schulform sind. Hier geht es nicht um eine Hand voll Ausnahmen, sondern um die Regel. Selbst Realschulen haben durchschnittlich einen Lernvorsprung von 2 Jahren. Nur mit Fakten und verifizierbaren Verbesserungen werden bildungsbewusste Eltern überzeugt werden können. Bisher gibt es diese Fakten einfach nicht und daher haben die Sozialisten ihre Quittung bekommen.
thomate
#3.1 — 28. Juli 2010, 18:20 Uhrwenn man vom teufel spricht
die gesamtschule funktioniert ja auch nicht, solange es die anderen Schulformen gibt.
und zweitens: Ich glaube, dass ein funktionierendes Schulsystem die beste und effektivste art der sozialpolitik ist, die man machen kann. Welche andere Institution soll in der Lage sein Armut vorzubeugen? Es ist schließlich auch kein Geheimnis, dass sich bildungsferne familien in form ihrer kinder reproduzieren... von der seite her muss schule der inbegriff von chancengerechtigkeit sein!
thomate
#4 — 28. Juli 2010, 18:15 Uhrstarker artikel
schöner artikel!
Ich glaube, dass viele Menschen auch aus Unwissenheit gegen Reformen sind. Dies liegt unter anderem daran, dass die "Experten", zb die Forscher etc., sich nicht wirklich dafür einsetzen, dass sich etwas bessert. Denn Politiker haben nicht genug Glaubwürdigkeit, um aufzuklären. Abgesehen davon würden die Gegner vermutlich auch die Forscher als "Theoretiker" abtun, die von der Realität keine Ahnung hätten. Ich weiß nur eines: Wenn es so weiter geht wie bisher, können wir in ein paar Jahren oder Jahrzehnten anfangen, unsere Häuser einzumauern und Security-Firmen zu beschäftigen, weil zu viele Menschen im heutigen System "Schule" gescheitert sind.
gruß
tho