Die Helden der Pandemie sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, heißt es. Aber wer ist damit gemeint? Die Virologen sind längst nicht mehr unter sich; auch andere Forscher wollen das Virus vermessen. Vor allem Wissenschaftler aus zwei – scheinbar fachfremden – Disziplinen haben sich inzwischen eine eigene Deutungshoheit über die Corona-Lage erarbeitet: Volkswirte und Physiker.
Dass Volkswirte bei Corona-Fragen mitdiskutieren, versteht sich von selbst. Sie studieren die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie: Welche ökonomischen Folgen haben Lockdowns und Grenzschließungen? Welche Konjunkturprogramme helfen wann wie schnell? Hier ist der Ökonom zu Hause. Sein Einfluss in der Pandemie reicht aber über diese angestammte Heimat hinaus. Manche Volkswirte beschäftigen sich auch unmittelbar mit dem Virus und seiner Verbreitung. Vor Kurzem war die Meldung zu lesen, die "Querdenker"-Demos in Leipzig und Berlin im Herbst seien nachweisbar für bis zu 21.000 Infektionen verantwortlich gewesen – Grundlage war ein Papier zweier Ökonomen. Andere Volkswirte erheben zwar keine eigenen Corona-Befunde, aber rechnen fremden Zahlen hinterher. So geriet zum Beispiel im vergangenen Sommer eine virologische Studie zur Viruslast bei Kindern in die Kritik, unter anderem weil auf Twitter mehrere Volkswirte die statistischen Methoden bemängelten, die die Autoren des Papers angewandt hatten. Und die Physiker? Sie treten in der Pandemie als sogenannte Modellierer auf – mit ihren Kalkulationen wollen sie nicht zurückblicken, sie wollen voraussagen, wie sich die Infektionskurven in der Zukunft entwickeln.
Gewissermaßen stehen die Corona-Physiker und die Corona-Volkswirte einander gegenüber wie Spiegelbilder. Was beide allerdings verbindet, ist das Ressentiment, mit dem man ihnen begegnet. Gegen sie hegt man einen bösen Generalverdacht: Was wissen die überhaupt von Viren? Der Vorwurf: Die modellierenden Physiker und die rechnenden Volkswirte hätten, anders als die Virologen, nicht hingebungsvoll ein Detail unserer Natur studiert. Sie kennten nur Kalküle und Quantifizierungswerkzeuge, bloß Mathe, die sie jetzt rücksichtslos überall anwendeten. Schon länger sprechen Kritiker von economics imperialism – dem Imperialismus der Volkswirtschaftslehre, von deren Methodenzugriff kaum eine andere Wissenschaft verschont geblieben sei in den letzten Jahrzehnten. Und haben nicht auch wir Privatleute unter ihr gelitten? Sind es nicht rationalisierungswütige Ökonomen gewesen, die uns Geistesmenschen und Rotweinkennern die schöne Lebenswelt wegkolonialisiert haben? Auch die Physiker grübeln längst nicht mehr in Laboren versunken den Geheimnissen des Universums nach. Sie haben ihre Modelle auf uns Menschen losgelassen, unter ihrem kalten Blick erstarren wir zu einsamen Elementarteilchen. Die Corona-Physiker, beklagte sich vor Kurzem der Soziologe Wolfgang Streeck, kämen "ohne Fakten aus und arbeiten stattdessen mit Modellen wie die Quants in den Investmentbanken". Kann man in einer Pandemie Leuten trauen, die sonst gerne Finanzkrisen verursachen?
So oder so ähnlich flüsterten uns das auch Quantifizierungsskeptiker wie Frank Schirrmacher vor. Sie haben gelehrt, die Unterwerfung unters Regime der Zahlen zu fürchten wie das Schlossgespenst. Was von ihrer Grundsatzkritik herabgesunken ist in die zahlenfernen bürgerlichen Milieus, bringt man jetzt in Stellung gegen Physiker oder Ökonomen – je nachdem, wessen Befunde der eigenen Corona-Meinung gerade am deutlichsten widersprechen.
Wie vielfältig hingegen die Wirklichkeit der Wissenschaft aussieht! Das lässt sich in dieser Pandemie lernen, wenn man es denn will. Ja, manche Volkswirte sind vor allem talentierte Statistiker; viele sind mehr als das oder ganz etwas anderes. Corona-Modellierer wiederum wissen mehr über Viren als so mancher Arzt. Und wer die ganz verschiedenen Corona-Kalküle der Physik und der Volkswirtschaftslehre miteinander vergleicht, merkt: Quantifizierung sieht höchstens aus weiter Ferne aus wie blöde Gleichmacherei. Physiker sind es gewohnt, die Welt zu erforschen in elegant gestalteten Experimenten. Eine Pandemie allerdings lässt sich auf diese Weise nicht untersuchen, allein die Ethik verbietet viele Versuche. Wo aber keine Experimentaldaten zu gewinnen sind, kann der Physiker immerhin modellieren.
Die Volkswirtschaftslehre hingegen kennt die Probleme, vor denen jetzt die Virologen stehen. Ihre Ökonometriker mussten schon immer mit den schmutzigen Beobachtungen auskommen, die man macht, wenn man tatsächlich die Welt vermisst und nicht ein Labor. Denn auch die VWL muss oft auf Experimente verzichten – kein Politiker wird zufällig ausgewählten Bürgern die Steuern senken, nur weil ein Volkswirt etwas herausfinden will. Was wissen also Volkswirte von Viren? Nichts. Aber sie wissen, mit welchen Techniken sich aus rohen Beobachtungsdaten das aussieben lässt, was andere nur mit aufwendigen Versuchsaufbauten erzwingen können: Erkenntnis. Auch irgendwie heldenhaft.
Kommentare
stojoacle
#1 — 19. März 2021, 13:35 UhrWie kann die angesehene Zeit nur so einen Artikel durchgehen lassen?
Mit Mathematik, IT und Organisationsvermögen wüssten wir, wer sich wo und wie ansteckt und könnten eine pfeilschnelle Kontaktverfolgung mit maximalem Effekt haben, die alle bisherigen Lockdowns und die dritte Welle weitestgehend vermieden hätte.
Dass es dem Robert-Koch-Institut offensichtlich daran fehlt, sollte keinesfalls dazu führen, andere Disziplinen zu verachten, die diesbezügliche Fertigkeiten haben.
Hafaniaras
#1.1 — 22. März 2021, 10:56 UhrEs ist halt einfach Schwachsinn etwas simulieren zu wollen wenn die dafür zugrundeliegenden Annahmen ungenau oder willkürlich sind.
Ein Ergebnis bekommt man immer und da die Mathematik dahinter kompliziert ist, sieht es auch gut aus. Nur ist das Fundament und die Schwierigkeit einer guten Simulation, dass auf dem Weg dahin nicht grob vereinfacht wurde.
Und ganz genau das ist 2008 auch passiert als sich die komplizierten Quants als totaler Blödsinn herausgestellt haben, trotz handwerklich guter Statistik.
MW+
#2 — 19. März 2021, 13:56 UhrLiebes RedaktionsTeam,
angenommen Sie würden gerne wissen wie viele PKW`s in Hamburg eine Delle haben und sie entscheiden sich 5 Auszubildende rauszuschicken um in HH Autos mit Dellen aufzuspüren und zu notieren. Nehmen wir mal an die Crew findet am Ende des Tages 500 Autos mit Dellen.
Jetzt sind alle Autobesitzer ganz aufgeregt und die Sache macht Schlagzeilen.
Nun entscheiden Sie sich am nächsten Tag die Anzahl der Auszubildenden, die auf die Suche nach Dellen gehen, zu verdoppeln. Was käme überschlägig statisch dabei heraus?
Genau! Man findet einfach mehr. Und die Aufregung ist nun noch größer.
Wenn die Anzahl der Tests für eine Viruserkrankung die in den meisten Fällen nicht bemerkt beim Menschen verweilt erhöht wird (was gerade stattfindet), dann werden nach Adam Riese auch mehr gefunden werden.
Interessant an der Berichtserstattung ist im Moment, dass gleichzeitig, trotz dritter Welle, die Anzahl der Toten (mit oder an Corona…) sinkt. Das ist doch toll!! Und lt. RKI gibt es quasi keine Infuenzafälle in 2020 und bisher 2021. Das ist doch auch toll!!
Warum schreiben Sie darüber nicht? Warum untersuchen Sie das nicht? Warum stellen Sie das nicht ins Verhältnis?
Lesen Sie sich in Risikoabschätzungen ein und vergleichen Sie das Risikogeschehen auf unseren Planeten. Sie werden erstaut sein!
Damit würden Sie den Menschen und Lesern einen Mehrwert in der Berichtserstattung liefern. Anders herum wird nur ein Übernehmen von dpa-Meldungen.
TinaKP
#2.1 — 19. März 2021, 15:49 UhrSo funktioniert es ja nicht. In ihrem Beispiel würden die Zahlen der Autos mit Dellen neben denen ohne Dellen gezählt und ins Verhältnis gesetzt. Wenn dann mehr Dellenzähler losgeschickt werden kommt es nur dann zu höherer Delleninzidenz wenn ein größerer Anteil der insgesamt getesteten Autos Dellen hat. Die Covid Positivzahlen werden ja zusammen mit der Zahl der Tests kommuniziert, und wenn es dann eine Steigerung von 1% zu 1,8% gibt, dann ist das schon eine proportionale Steigerung, nicht nur eine, die auf mehr Messungen zurückzuführen ist.
fagus_waltr
#3 — 19. März 2021, 15:26 UhrEntfernt. Nutzen Sie den Kommentarbereich bitte um sich sachlich über den Artikelinhalt auszutauschen. Danke, die Redaktion/rg
Frohlockdown
#3.1 — 22. März 2021, 11:14 Uhr>>>In der Pandemie reden auch Physiker und Volkswirte mit. Aber was wissen die überhaupt von Viren?<<<
Gegenfrage. Was wissen Politiker von Viren?
Hätten wir auf die Mathematiker gehört, hätten wir die Pandemie größtenteils überstanden. Die Kosten wären deutlich niedriger ausgefallen.
China hat gezeigt, dass man das Virus auch ohne Impfstoff bekämpfen kann.
Kurz gesagt, Virologen, Infektologen und Pharmakologen sind nicht die Allwissenden.
sepp_m
#4 — 19. März 2021, 16:30 Uhrwieviele Infektionen wurden durch die Landtagswahlen in Bayern geschaffen???
Sonderze.chen
#4.1 — 22. März 2021, 11:14 Uhr2018?
Null.